Der norddeutsche Februarhimmel hängt tief und kalt über dem Bremer Rathausplatz. Kein Zweifel, im Sommer wirkte die Kulisse dieses UNESCO-Weltkulturerbes schöner. Doch es hat schon seinen Grund, warum das wichtigste gesellschaftliche Ereignis der Hansestadt, die Schaffermahlzeit, stets am zweiten Februarfreitag stattfindet: Das Mahl war ursprünglich eine letzte große Lagebesprechung zwischen Kaufleuten und Kapitänen, bevor die bremischen Schiffe nach dem Schmelzen des Eises wieder auf große Fahrt gingen. Es galt, die wertvolle Fracht unbeschadet zu ihren Empfängern zu bringen.
Die sichere Heimkehr der Seeleute war jedoch alles andere als sicher. Der Seeverlust war in früheren Jahrhunderten immens hoch. Viele ertranken, gingen an Krankheiten zugrunde, fielen Piraten zum Opfer oder verunfallten an Bord. Zur Versorgung ihrer Witwen und Waisen sowie alter und kranker Seeleute wurde 1545 in Bremen die Stiftung „Haus Seefahrt“ gegründet. Diese karitative Einrichtung finanziert sich bis heute maßgeblich aus den Spenden der jährlichen Schaffermahlzeit. Die Teilnahme als Gast an der Schaffermahlzeit gilt als große Ehre. Man darf nur einmal im Leben teilnehmen. Außer man wird später zum Bundespräsidenten gewählt, dann dürfte man noch ein zweites Mal hinzustoßen zu den jeweils rund hundert Kapitänen und Schaffern aus der bremischen Kaufmannschaft, die im Frack mit schwarzer Weste und schwarzer Fliege erscheinen, während die Gäste eine weiße Weste tragen. Das Mahl selbst folgt einem festen, über die Jahrhunderte nur behutsam veränderten Ritual. Die Veranstaltung sei „skurril-schön“, verspricht der zur Betreuung zugeteilte Schaffer.

Die Tische ergeben das Dreizack des Neptuns
Am Anfang steht ein Stehempfang im Haus Schütting, dem Sitz der Handelskammer für Bremen und Bremerhaven, über deren Eingang der richtungsweisende Leitspruch vom „wagen un winnen“ steht. Der Reeder führt dort zu einer großen Standtafel, der man die diesjährige Sitzordnung entnehmen kann. Die Teilnehmer nehmen an drei langen Tischen und einem quergestellten Tisch am Ende Platz, so dass sich daraus der Dreizack des Neptuns ergibt. An dem quergestellten Tisch sitzen die Vorsteher und ihre Gäste, die als künftige Schaffer auserkorenen Novizen sowie der Bremer Bürgermeister Andreas Bovenschulte und der diesjährige Ehrengast, der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst. An den Enden der drei langen Tafeln sitzen die drei ausrichtenden Schaffer des Jahres 2025. Diese drei jungen Unternehmer dürfen die diesjährige 481. Schaffermahlzeit organisieren (und finanzieren). In den kommenden Jahren werden sie vom Ende der Tafel in der Festgesellschaft allmählich immer weiter nach oben rücken. „Und wenn man oben ankommt, ist man noch nicht zwingend tot“, erklärt der Reeder trocken.

Sodann begibt sich die Gesellschaft hinüber in den prachtvollen Rathaussaal. An der Wand hängt das Ölgemälde eines riesigen Wals und von der holzgetäfelten Decke hängen vier Schiffe herab. Es handelt sich um Modelle sogenannter Orlogschiffe, die einst die Bremer Handelsschiffe schützten. Die Kanonen der Jahrhunderte alten Modellschiffe im Rathaussaal lassen sich tatsächlich laden und feuern.
Löschpapier ist das wichtigste Handwerkszeug
Zu Beginn des Mahls erhalten die Teilnehmer noch die Warnung, dass auch die Bestuhlung schon einige Jahre alt ist und noch aus der Zeit vor dem Ergonomie-Gedanken stammt. Die Berechtigung dieser Warnung wird sich erst im Laufe der Zeremonie erweisen, die sich über sechs Gänge und knapp ebensoviele Stunden zieht, aber dennoch minutiös durchgetaktet ist. Die bremische Hühnersuppe wird den Teilnehmern um 14.38 Uhr in die Teller gefüllt, die ihnen um 14.47 Uhr bereits wieder weggenommen werden. Es folgen Stockfisch, Kalbsbraten, Rigaer Butt und Braunkohl mit Pinkel und Rauchfleisch. Aufgelockert wird dieses fleisch- und fischlastige Mahl durch Katharinenpflaumen und gedämpfte Äpfel.

Zum wichtigsten Handwerkszeug zählt Löschpapier. Denn die Teilnehmer erhalten lediglich ein Besteck, das sie zwischen den Gängen mit den bereitliegenden, kleinen Bögen des Löschpapiers reinigen. Für diese Reinigung bleibt reichlich Zeit, denn zwischen den Gängen werden insgesamt zwölf Reden gehalten. Neben den Rednern stellen sich links und rechts zwei Kapitäne auf. Ihre Aufgabe besteht darin, den Redner aufzufangen, falls dessen Gleichgewichtssinn infolge übermäßiger Betankung von zu hohem Wellengang übermannt wird. Denn in früheren Jahrhunderten soll es bei den Schaffermahlzeiten laut Berichten wüst zugegangen sein. Heutzutage hält sich der Konsum des Weiß- und Rotweins innerhalb der Grenzen des bürgerlichen Anstands.
Die Hauptlast der zwölf Reden tragen die drei ausrichtenden Schaffer des Jahres. Nach einem Willkommensgruß des ersten Schaffers hält der zweite Schaffer zunächst eine Rede auf den Bundespräsidenten und das Vaterland, nach der die versammelte Festgesellschaft die „3. Strophe des Deutschlandliedes“ singt, wie das ausgelegte Programmheft zur Absicherung gegen etwaige Missverständnisse festhält. Nach dem Stockfisch muss der dritte Schaffer sodann eine Rede auf Bremen und den Senat halten. „Das ist jetzt die schwierigste Rede“, flüstert ein Schaffer von der gegenüberliegenden Tischseite. Um das Verhältnis zwischen dem SPD-geführten Senat und den Unternehmern in der Stadt steht es nämlich nicht zum Besten. Im Streit um eine Ausbildungsabgabe begegneten sich beide Seiten zuletzt sogar vor Gericht. Doch der junge Schaffer – jung heißt in dieser Umgebung: um die 40 Jahre alt – belässt es bei wenigen humorvollen Anspielungen und lobt den Senat, dass er „unaufgeregt, seriös und ohne Skandale“ seine Arbeit mache. Ein innerbremisches Gezänk vor den auswärtigen Gästen aus der internationalen Wirtschaft stünde auch im Widerspruch zum heutigen Hauptzweck der Schaffermahlzeit: Das kleine Land wirbt mit dem Traditionsessen um Sympathien auswärtiger Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft. Die Sorge um in Not geratene Seeleute drückt mittlerweile weniger, denn die Schifffahrt ist ungleich sicherer als früher. Im „Haus Seefahrt“ finden heutzutage daher auch Studenten der Nautik und die Familien ukrainischer Seeleute eine Unterkunft.

Eine weitere Änderung besteht darin, dass seit einigen Jahren auch Frauen unter den Gästen und Schaffern zugelassen sind. Bewegung gibt es aber auch bei den Kapitänen. Auf dem Platz nebenan sitzt eine Kapitänin, die ein 366 Meter lange Schiff mit knapp 13.900 Container über die Ozeane navigiert. Die junge Frau mit den vier goldenen Streifen auf ihren Ärmeln berichtet, dass die Eisfreiheit der Weser im Februar für ihre Arbeit längst kein Thema mehr sei. Die Kapitänin fliegt stattdessen ins nordkoreanische Busan, übernimmt dort ihr Schiff und steuert es durch den Panamakanal zunächst nach Kolumbien und dann an die nordamerikanische Ostküste. Dadurch wird auch klar, weshalb die Bremer Reeder die Ankündigungen des neuen amerikanischen Präsidenten Donald Trump hinsichtlich des Panama-Kanals sehr aufmerksam verfolgen. Zu ihrem Beruf gehört es auch, die Folgen von Sanktionen und Zöllen gründlich zu durchdenken.
„Unsere Häfen sind keine maritime Kulisse“
Dieses ureigene Interesse an internationaler Politik und globalen Märkten bildet die Grundlage für die Weltoffenheit der hanseatischen Gesellschaft, in der man gerne über die Provinzialität früher und womöglich künftiger CSU-Bundesverkehrsminister schimpft, die Deutschland Häfen mit wenigen Millionen Euro abspeisen, während im Freistaat noch die letzte Kleinstadt mit einer neuen Umgehungsstraße beglückt wird. „Unsere Häfen sind keine maritime Kulisse“, warnt ein Schaffer in der Rede auf die Schifffahrt, den Handel und die Industrie. Die Exportwirtschaft, die Energiewende, und der Nachschub im Kriegsfall sei ohne leistungsfähige Häfen nicht denkbar. Die führende technologische Stellung, die Deutschland habe, müsse verteidigt werden.
In diese Kerbe schlägt auch Hendrik Wüst, der den Wunsch nach Weltoffenheit und nach Innovation in den Mittelpunkt seiner Rede stellt. Der CDU-Politiker warnt vor einer „risikoaversen Gesellschaft“, in der „alles was gefährlich ist, entweder verboten oder erschwert wird“. Auch dieser Wunsch wird von der Gesellschaft mit einem dreifachen „Hepp, hepp, hepp, hurra“ unterstützt, bevor zum Abschluss ein Mokka serviert wird und sich die Gäste eine lange Tonpfeife stopfen.