In diesem Jahr fiel die India Art Fair mit einem Meilenstein in der Geschichte des unabhängigen Indiens zusammen. Wenige Tage bevor die als Bühne für moderne und zeitgenössische Kunst des Subkontinents sowie als Tor zum internationalen Markt immer wichtiger gewordene Messe zum sechzehnten Mal in Neu Delhi eröffnete, feierte das Land den 75. Jahrestag des Inkrafttretens seiner Verfassung am 26. Januar 1950. Als deren Vater gilt der Jurist, Politiker und Sozialreformer Bhimrao Amji Ambedkar, der, selbst zu einer Kaste der sogenannten Unberührbaren gehörend, sich für die Rechte der wegen ihrer im hinduistischen Glauben ausgegrenzten Dalits einsetzte.
Für diejenigen, die mit wachsendem Unbehagen auf die gegenwärtigen Entwicklungen unter der hindunationalistischen Regierung von Premierminister Narendra Modi blicken, gab der Jahrestag Anlass, sich Ambedkars Vorstellung einer sozialen Demokratie zu besinnen, die nicht bloß als Regierungsform aufzufassen sei, sondern als Zusammenleben nach den Grundsätzen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Solidarität mit den Dalit
Darauf werden Besucher der eben zu Ende gegangenen Messe schon vor den Ausstellungszelten durch eine digitale Installation des in Mumbai ansässigen Künstlers Yogesh Barve aufmerksam gemacht: Auf etlichen LED-Textbändern lässt er Schriften Ambedkars laufen, die derart umfassend sind, dass es 1800 Stunden dauern würde, alle eingegebenen Texte zu lesen. In Anlehnung an die mit dem amerikanischen Schriftsteller James Baldwin assoziierte Aussage „I am not your negro“ heißt die Arbeit über die anhaltende Diskriminierung der untersten Kaste, die etwa ein Fünftel der Bevölkerung Indiens stellt: „I am not your Dalit“.
In den Messekojen begegnet man Ambedkar und der als bedroht empfundenen Verfassung in vielfältigen Formen. Fragen nach Herkunft und Religionszugehörigkeit werden aufgeworfen. Der junge Künstler Madhukar Mucharla hat ein Porträt des Babasaheb (verehrter Vater) genannten Politikers aus Leder gefertigt. Das Material ist bedeutungsvoll, weil Lederarbeiter traditionell als unrein stigmatisiert werden. Am Stand von Galleryske (Neu Delhi) hängt ein Porträt Ambedkars neben anderen Lederarbeiten Mucharlas, darunter eine Ringelblumengirlande.
Durch die Verwendung von Leder für einen das Schöne und Reine verkörpernden Gegenstand hinterfragt der Künstler tief sitzende Vorurteile. Die Threshhold Gallery (Neu Delhi) präsentiert neben anderen Werken von Anindita Bhattacharya eine wandfüllende Papiercollage, die mit Motiven aus der Mogulkunst und Zitaten aus der Verfassung in der politisch-religiös bedrohten Sprache Urdu ein feingliedriges Mosaik der synkretistischen Kultur Indiens schafft.
Aus Kunsthandwerk wird Kunst
Wie Mucharla und Bhattacharya sich künstlerischer und handwerklicher Traditionen bedienen, um aktuelle Themen figürlich und abstrakt zu beleuchten, steht exemplarisch für die Praxis zahlreicher Künstler, die auf der Messe und über sie hinaus in Galerien und Institutionen – etwa dem Privatmuseum der Sammlerin Kiran Narda – präsentiert werden. Mit hauchdünnen Fäden und Draht stickt Samakshi Singh (Galerie Exhibit 320) die monumentalen Säulen des indo-islamischen Qutub-Komplexes in Delhi und regt mit den ätherisch wirkenden Darstellungen zur Reflexion über scheinbare Permanenz und historische Vermächtnisses an.
Bei der Anupta Mehta Gallery stickt Alamu Kumaresan Porträts wie „The Legacy of Melody Durcas“, die mit Garn und anderen Materialien malerische Qualität entfalten und von der Großmutter zu Mutter und Tochter weitergegebenen Fertigkeiten in Handarbeiten in den Rang der Kunst erheben.
Die intensive Beschäftigung mit den Nachwehen der Teilung des Landes, mit der Sorge um die Umwelt und die Folgen der Urbanisierung, mit Unrecht und religiösen Konflikten, aber auch dem spirituellen sowie philosophischen Erbe Indiens machen den Reiz dieser Messe aus. Sie eröffnet einen Zugang zu den Befindlichkeiten des Landes.
Kuratoren aus aller Welt
Die India Art Fair spiegelt freilich auch die dynamische Entwicklung des Kunstmarkts. Getragen wird der von etablierten Sammlern, einer neuen, wirtschaftlich erfolgreichen Klasse von Käufern und der wachsenden internationalen Anerkennung indischer Kunst. Mit 120 Teilnehmern ist die aktuelle Ausgabe der Messe die bisher größte. Von ihrem Ansehen zeugt die Beteiligung namhafter internationaler Aussteller wie der Galleria Continua, Carpenters Workshop und Indigo + Madder sowie die Präsenz von Kuratoren etwa aus dem Louvre Abu Dhabi, dem Haus der Kunst in München, der Londoner Tate oder dem Guggenheim Museum in New York.
Die Londoner Lisson Gallery, die seit 2012 nicht mehr auf der Messe ausgestellt hat, und David Zwirner aus New York, der seit der Pandemie nicht mehr dabei war, haben sich zur Rückkehr entschlossen. Zwirner stellt indische und westliche Künstler wie den Bildhauer Huma Bhubha und den kolumbianischen Maler Oscar Murillo Seite an Seite. Zeichnungen von Paul Klee, der großen Einfluss auf den indischen Modernismus ausübte, hängen neben einem Gemälde der Britin Rose Wylie, der das Zentrum Paul Klee in Bern bald eine Schau widmet.
Heimische Galerien expandieren
Bezeichnend für den dynamischen indischen Kunstmarkt sind Entwicklungen von Galerien für moderne und zeitgenössische Kunst. Einige, die bislang in Mumbai ansässig waren, haben jetzt Dependancen in Neu Delhi eröffnet. Dort finden Kunsthandlungen wie Method oder Mirchandani + Steinruecke, die früher in Berlin verteten war, in einem neuen Kunstviertel zusammen, das in einer für die indischen Streitkräfte gebauten Siedlung entsteht. Heimische Firmen wie Vadhera, Shrine Empure und Akar Prakar sind hier ebenfalls dabei. Umgekehrt haben Galerien wie Experimenter aus Kalkutta oder Nature Morte aus Neu Delhi in Mumbai Niederlassungen eröffnet.
Auch die India Art Fair hatte Pläne für eine neue Messe in dieser Stadt, die inzwischen die größte Anzahl von Milliardären in Asien beherbergt. Sie sollte im November mit der dritten Edition der Art-Mumbai-Messe stattfinden, scheiterte jedoch am Widerstand des Auktionshauses Saffronart, das hinter der Art Mumbai steht. Stattdessen setzen die britischen Kunstmessebetreiber Angus Montgomery, denen die India Art Fair gehört, auf die bisherige Strategie, den Markt des Subkontinents mit kollaborativen Projekten in Zentren wie Hyderabad und Bangalore zu durchdringen, um so weitere Sammler und Teilnehmer für die Messe in Neu Delhi zu gewinnen. Der Erfolg der India Art Fair zeigt, dass diese Taktik sich bewährt hat.