Wenn am 23. Februar ein neuer Bundestag gewählt wird, steht auch die Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch (Dava) wieder zur Wahl. Der vor zwei Jahren gegründeten Partei mit gutem Draht nach Ankara bescherte vor zwei Jahren das Versprechen, die Stimmen der Migranten und besonders der Muslime zu bündeln, einen kurzen Höhenflug. Bei den Europawahlen holte sie dann nur 0,4 Prozentpunkte und muss nun kleinere Brötchen backen. Die Meinung, die (islamische) Herkunft sei ein entscheidender Faktor des Wahlverhaltens, wurde ebenso gedämpft wie die Ängste vor einem heraufziehenden Scharia-Staat. Offensichtlich ist die Wählergruppe der Migranten zu vielfältig, um von einer Partei vertreten zu werden.
Bei der letzten Kommunalwahl in Frankfurt am Main warben beispielsweise bulgarische oder rumänische Kleinparteien um die Wählergunst, was die Frage aufwarf: Was ist eine typisch bulgarische Forderung an die Frankfurter Politik? Würde die Forderung der Bulgaren nach nationaler Repräsentation auf alle 175 in Frankfurt lebenden Nationen übertragen, käme das Stadtparlament schnell an seine Grenzen. Auf der Bundesebene verflüchtigt sich die parteipolitische Folklore wieder. Was bleibt, ist die Frage, wie die Wählergruppe der heute rund sieben Millionen wahlberechtigten Bürger mit Migrationsgrund, umgerechnet dreizehn Prozent, politisch anzusprechen ist.
Binnenkonkurrenz der Einwanderergruppen
Ist sie das überhaupt? Als Großgruppe unterscheiden sich migrantische Wähler nicht wesentlich vom Rest der Bevölkerung. Traditionell neigen sie zum linken Spektrum, das der Zuwanderung offen gegenübersteht. Das gilt nicht für die Gruppe der Russlanddeutschen, die sich seit Langem der Union verbunden fühlen und sich in kleineren Teilen auf die AfD zubewegen. Der Politikwissenschaftler Achim Goerres von der Universität Duisburg-Essen, der migrantisches Wahlverhalten seit mehr als zehn Jahren erforscht, führt dies weniger auf thematische Schnittmengen als auf den generellen Willen zum Deutschsein zurück, das sich die Russlanddeutschen besonders in der sowjetischen Diaspora hart hatten erkämpfen müssen, ein „erzähltes“ Deutschsein mit nostalgischen Zügen, das wie ein Schleier über der bundesrepublikanischen Gegenwart schwebt.
Der Glaube, Migranten mit identitätspolitischen Themen auf die eigene Seite ziehen zu können, ist durch die amerikanische Präsidentschaftswahl geschwächt. Dort wählten ungewöhnlich viele Afroamerikaner, Asiaten und Latinos einen Präsidenten, der die Migration drastisch begrenzen will und die Minderheitenpolitik für eine Erfindung des Teufels hält. Inzwischen mehren sich auch unter den amerikanischen Demokraten die Stimmen, die eine Rückbesinnung auf Stammthemen fordern, wie der „New Yorker“ kürzlich berichtete. Die Meinung scheint sich zu verfestigen, dass man mit Identitätspolitik keine Wahlen gewinnt.
In Deutschland machte sich zuletzt ein ähnlicher Trend bemerkbar. Türkischstämmige Wähler, die traditionell eng mit der SPD verbunden sind, wechseln ins konservative Lager zur Union und teils sogar zur AfD. Nach einer Studie der unionsnahen Adenauer-Stiftung hat die SPD bei der letzten Bundestagswahl ihre traditionelle Dominanz in diesem Milieu eingebüßt. Ähnliche Diagnosen gab es nach der letzten Berlin-Wahl, allerdings sind generalisierende Aussagen mit Vorsicht zu betrachten, da die Datenlage schwach ist. Über die meisten Migrantengruppen weiß man wenig bis nichts.
Die Trendwende wird im Allgemeinen darauf zurückgeführt, dass Migranten heute weniger nach Herkunft und stärker nach konkreten Interessen wählen. Die Haltung zur Migrationspolitik hängt laut Goerres stark von der Dauer der Staatsbürgerschaft ab. Es sei eine wiederkehrende Beobachtung der Migrationssoziologie, dass sich Einwanderergruppen, die zu unterschiedlichen Zeiten ankommen, stark voneinander abgrenzen. Alteingesessene neiden Neuankömmlingen zu Recht oder Unrecht, es heute leichter zu haben. Besonders die ältere Gastarbeitergeneration möchte ihre Arbeitsleistung gewürdigt wissen und nicht in ein Opfernarrativ gesteckt werden. Bei den Türkischstämmigen handelt es sich außerdem um ein strukturell konservatives Klientel, das für die Segnungen der Identitätspolitik wenig empfänglich ist.
Angleichung des Wahlverhaltens
Man kann aber auch daraus keine allgemeine Aussage ableiten, denn die Türkischstämmigen sind nur die drittgrößte Gruppe unter den wahlberechtigten Migranten nach den Russland- und Polenstämmigen, und auch all diese Gruppen zusammengenommen machen noch nicht einmal die Hälfte der migrantischen Wähler aus. Der türkische Gemüsehändler mag noch immer das Bild des Migranten prägen, aber es gibt auch Italiener, Serben, Eritreer, Vietnamesen oder Ukrainer sowie türkische Anwälte, Ärzte, Ingenieure. Konstant ist das Wachstum der Vielfalt unter migrantischen Wählern, womit sich die Frage stellt, ob es überhaupt sinnvoll ist, Migranten politisch gezielt zu umwerben. Eine Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung beantwortete dies kürzlich eher mit nein.
Bei den 2689 befragten Wahlberechtigten mit und ohne Migrationshintergrund konnten sich jeweils rund 70 Prozent vorstellen, SPD oder CDU zu wählen, wobei sich die beiden Klientelen (mit und ohne Migrationshintergrund) nur wenig unterschieden. Die AfD hatte die geringsten Beliebtheitswerte, trotzdem mochte es überraschen, dass sich mehr als zwanzig Prozent der Migranten aus der Türkei, dem Nahen Osten und dem europäischen Ausland für eine strikt migrationskritische Partei erwärmen konnten, was zeigt, dass es unter Migranten keinen einheitlichen Standpunkt zur Migrationspolitik gibt. Die größte Kompetenz in der Migrationspolitik sahen die Befragten mit Migrationshintergrund sogar bei den Unionsparteien (25,9 Prozent) und der AfD (24,7 Prozent).
Die AfD hat sich diese Stimmung zu nutze gemacht und wirbt offensiv um migrantische Stimmen. Erfolg hat sie bei Bürgern, die Deutschland für überfremdet halten und sich härteres Durchgreifen wünschen. Auch unter Wählern mit Migrationshintergrund gibt es ein Interesse an Law and Order, bis hin zur Identifikation mit dem Deutschsein. Der Vorsitzende der Dava-Partei bezeichnete sich im Gespräch mit dieser Zeitung etwa als Ausbund deutscher Tugenden. Beim Werben im Arbeitermilieu, das sich von der Sozialdemokratie im Stich gelassen fühlt, konkurriert die AfD mit dem BSW und der Linkspartei, der bei der Bekämpfung der Ungleichheit von den Befragten am meisten zugetraut wird (47,1 Prozent).
Ein weiteres Mal zeigt sich, dass Wähler mit Migrationshintergrund politisch nicht auf den Begriff zu bringen sind. Sie haben mit Diskriminierung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt zu kämpfen, auch ist ihr Vertrauen in die Politik und ihr politischer Mobilisierungsgrad geringer als im Rest der Bevölkerung, im Großen und Ganzen haben sie aber ähnliche Sorgen wie der Rest der Bevölkerung. Berichte, dass migrantische Stimmen den Erfolg einzelner Parteien bestimmen könnten, resümieren die Studienleiter, würden durch die Studie nicht bestätigt.
Das bedeutet auch, dass an der unter Rechtsextremen populären These vom „Großen Austausch“, nach der linke Parteien das Land mit für sie leicht regierbaren Migranten überschwemmten, nichts dran ist. Da sich migrantische Wähler erfahrungsgemäß mit wachsender Aufenthaltsdauer dem allgemeinen Wahlverhalten angleichen, mehren sie vielmehr die Chancen der konservativ-bürgerlichen Parteien. Dass Migranten, wenngleich nicht allzu oft, AfD wählen, ist nach Goerres Teil dieser Angleichung.
Randständigkeit kultureller Themen
Während die Union aus grundsätzlichen Erwägungen zögert, Minderheiten gezielt anzusprechen, bemühen sich linke Parteien stärker um die Integration in den eigenen Reihen oder um gezielte Ansprache mit mehrsprachigem Werbematerial. Dies stößt an die Grenze, dass niemand für Migranten im Ganzen sprechen kann. Warum sollte eine ägyptischstämmige Rechtsanwältin die politischen Interessen eines spanischstämmigen Immobilienhändlers in besonderer Weise repräsentieren? Vielleicht hängt es mit diesem Repräsentationsproblem zusammen, dass man Migranten häufig unter den Einheitsbegriff des Opfers fasst, der ihnen höchstens in Teilen gerecht wird.
Bei Wahlen wollen Wähler mit internationalen Wurzeln nach der Beobachtung von Goerres gerade nicht als Migranten, sondern als deutsche Staatsbürger angesprochen werden. Im Übrigen hätten sie dieselben Prioritäten wie andere Wähler: Inflation, Arbeitslosigkeit, Migration etc. Kulturelle Themen wie der Islamunterricht, das kommunale Wahlrecht unter Türkischstämmigen oder die Rentenanerkennung von Russlanddeutschen seien nicht wahlentscheidend. Im Ganzen unterscheide sich das Wahlverhalten stärker nach Generationen als nach Herkunft. Das auffälligste Muster sei aber nicht der Unterschied, sondern die Ähnlichkeit zu den übrigen Wählern. Herkunft ist noch kein politisches Programm.