An fehlendem Publikum liegt es nicht. Selbst in der Finanzmetropole Frankfurt finden sich zur Beruhigung Christian Lindners an einem Donnerstagnachmittag im Winter viele Menschen, die sich die Zeit für einen Wahlkampfauftritt des FDP-Parteivorsitzenden nehmen. Der historische Saal ist voll. „Dann ist das Rating offenbar gut“, sagt Lindner. „Kaufkurse, wäre die FDP eine Aktie.“ Dennoch beginnt er zunächst verhalten, und das hat nicht nur mit dem „enorm polarisierten Wahlkampf“ zu tun, bei dem der Druck von links und rechts komme. Und der wenig erfreulichen Zustandsbeschreibung der Wirtschaft des Landes.
Als Lindner ins Gesellschaftshaus des Palmengartens kommt, ist in München die Polizei noch am Ort des mutmaßlichen Anschlags, bei dem ein Autofahrer in eine Menschengruppe gefahren ist und mehr als zwei Dutzend verletzt hat. „Ich bin zu ritualisierter Betroffenheit nicht mehr fähig“, sagt der FDP-Chef, „in mir wächst die kalte Wut“. Es sei immer das gleiche Muster, wenn die Ausreisepflicht wie im Fall des Afghanen nicht vollzogen werde. Dass der bayerische Innenminister diese Angabe später korrigiert, kann er zu diesem Zeitpunkt nicht wissen. 
Lindner: SPD und Grüne nicht bereit zu reagieren
Lindner spricht von „Staatsversagen, das man nicht mehr hinnehmen kann.“ Das vor zehn Tagen im Bundestag zur Abstimmung gestellte Gesetz zur Beschränkung der Migration enthalte Vorschläge, die seit Jahren im Wahlprogramm der FDP stünden. Nicht, dass die AfD zugestimmt habe, sei der Skandal. Sondern dass Grüne und SPD nicht zugestimmt hätten, sagt der Spitzenkandidat und bekommt besonders lauten Beifall.
Lindner widmet sich ausführlich der Wirtschaftskrise, die an die Substanz gehe. Der Grund für die vorgezogene Bundestagswahl sei, dass SPD und Grüne nicht bereit gewesen seien, auf diese tiefe Krise zu reagieren. Die FDP habe nicht zusehen können, wie Deutschland weiter absteige. „Bettina und ich sind in volles Risiko gegangen, statt unsere Ämter zu retten“, sagt er und blickt auf die frühere Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger vor der Bühne. Sie hat als hessische Spitzenkandidatin vor ihm gesprochen.
„In Deutschland wird öfter gefragt, wo man eine Leistung beantragen kann als wo man eine Leistung erbringen kann“, sagt Lindner, als er sich der Finanzpolitik zuwendet. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sage zwar, er wolle die Schuldenbremse für Investitionen aussetzen. Doch zugleich wolle er die Mehrwertsteuer senken, was niemandem wirklich helfe. „Wie Prinz Karneval, der Kamelle wirft.“ Bei der Klage über die Bürokratie und den „überdehnten Staatsapparat mit allein 700 Bundesbehörden“ kommt er in Fahrt. In den ersten 100 Tagen einer neuen Regierung werde man 100 Regeln abschaffen, nötig sei eine „systemische Müllabfuhr“.
Eine Deutschlandkoalition für Lindner am wahrscheinlichsten
Im Einzelfall könne man sich immer noch korrigieren, doch das werde nicht nötig sein, „weil niemand die Berichte liest.“ Er erzählt vom Baggerfahrer, der nicht so viel arbeiten dürfe, wie er wolle. „Ich habe in einer Schublade des Finanzministeriums eine Steuerbefreiung für den Überstundenzuschlag versteckt“, sagt der ehemalige Minister.
Bei der Bundestagswahl werde es keine Überraschungen geben, prophezeit er. „Friedrich Merz wird der nächste Kanzler sein.“ Scholz könne den Rückstand nicht aufholen. Mit der FDP sei Schwarz-Grün rechnerisch nicht möglich, eine Deutschland-Koalition aus CDU, SPD und FDP am wahrscheinlichsten.
Der Bundesparteitag der FDP hat vor wenigen Tagen eine Zusammenarbeit mit den Grünen in der nächsten Bundesregierung ausgeschlossen, weshalb auch eine schwarz-grün-gelbe Jamaika-Koalition nicht möglich ist. „Diesmal“, sagt Lindner einschränkend und in Richtung der Frankfurter Parteifreunde: der Ausschluss gelte nicht für die kommunale Ebene. Sie sind in einem Viererbündnis mit Grünen, SPD und Volt.
Um in Koalitionsüberlegungen eine Rolle zu spielen, müssen die Liberalen erst in den Bundestag kommen. „Wir wollen keine Leihstimmen“, sagt Lindner, „wenn Sie eine andere Partei besser finden – bitte.“ Aber es gebe auch keine verlorenen Stimmen, von denen Merz vor einigen Tagen gesprochen hat. „Wir brauchen am 23. Februar ihre Bekenntnisstimme.“
