Carl Friedrich Mylius muss ein widersprüchlicher Mensch gewesen sein. Im Jahr 1827 in Frankfurt geboren und früh Vollwaise geworden, kam der Mann von hagerer Gestalt nach einer Ausbildung zum Zeichner und Lithographen weit im deutschsprachigen Raum herum und heiratete in Nürnberg, bevor er als Fotograf mit der Familie 1854 in die Heimatstadt zurückkehrte. Dort lebte und arbeitete er bis zu seinem Lebensende im Jahr 1916 im Haus mit der Adresse Biebergasse 3. Von späteren größeren Reisen ist nichts bekannt.
Eine Entsprechung zur biographischen Mischung aus früher Beweglichkeit und späterer Standorttreue findet sich in seinem Werk: Erst kurz vor seiner Entscheidung für den noch neuen Fotografenberuf hatte er sich im wenige Jahre zuvor entwickelten Kollodiumnassverfahren ausbilden lassen. Diese Technik erweiterte die Möglichkeiten der Fotografie dramatisch, da im Vergleich zur bis dahin vorherrschenden Kalotypie (Papiernegative) deutlich schärfere Aufnahmen bei kürzeren Verschlusszeiten (etwa zwölf Sekunden bei Blende 8) möglich waren. Diesem aufwendigen Verfahren blieb er auch dann noch treu, als die technische Entwicklung längst vorangeschritten war und sich die Trockenplatte durchgesetzt hatte.
Auch sein berufliches Lebensthema fand Mylius, der sich bei Gründung seines Ateliers der Konkurrenz von etwa zehn weiteren Fotografen stellen musste, schon nach wenigen Jahren. Er verlegte sich auf die Architekturfotografie. Mylius stieß damit in eine Marktlücke, die sich aus dem Arbeitsaufwand ergab. Anderen Fotografen war es zu anstrengend, mit einem mobilen Fotolabor in Form eines ziemlich großen Handwagens durch die Stadt zu ziehen. Den brauchte man damals, weil das Negativ in nassem Zustand in die Kamera eingesetzt werden musste.
Die örtliche, die technische und die thematische Selbstbeschränkung von Mylius sind aus heutiger Sicht ein Glücksfall. In der Kombination haben sie dafür gesorgt, dass sein über etwa 35 Jahre reichendes Werk von seltenem Tiefgang und einmaliger Einheitlichkeit ist. In einer Ausstellung des Städel Museums – erstaunlicherweise der ersten monographischen Schau zu seinem Œuvre überhaupt – ist das jetzt zu besichtigen. So unterscheidet sich das älteste ausgestellte Bild von 1855, das den Römerberg mit der damals noch schlichten Fassade des Rathauses zeigt, in der bildlichen Anmutung nicht sehr von der in der zweiten Hälfte der um 1870 entstandenen Aufnahme der Französisch-Reformierten Kirche am Goetheplatz.
Mylius hat das Erscheinungsbild von Frankfurt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer auch im Vergleich mit anderen Städten ungewöhnlichen Dichte überliefert. Er hat eben nicht nur den Kanon der Sehenswürdigkeiten wie den Dom fotografiert, um Abzüge an Touristen zu veräußern, die Frankfurt oft als Abstecher von einer Rheinreise besuchten. In dieser Hinsicht waren ihm andere, rein kommerziell orientierte Fotografen, die durch die großen Städte reisten, um deren wichtigste Bauten abzulichten, mitunter sogar überlegen, was die rein technische Qualität ihrer Bilder angeht.
Wertvoll ist das Werk von Mylius, weil er sich als Dokumentar verstand, der gewissermaßen im eigenen Auftrag den Wandel des Stadtbildes im atemberaubend schnell wachsenden und sich wandelnden Frankfurt festhalten wollte. Er fotografierte historische Gebäude, die in keinem Reiseführer auftauchten; oft tat er das unmittelbar, bevor sie zugunsten von größeren Neubauten abgerissen wurden. Den Hang zum atemlosen Gestaltwandel hat Frankfurt nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt, eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegenüber der eigenen Geschichte scheint in den Genen des Gemeinwesens angelegt zu sein.
Blick ohne Sentimentalität
Dazu passt, dass der Blick des Frankfurters Mylius auf die äußerlichen Veränderungen seiner Stadt nicht von Sentimentalität geprägt ist. Er lichtet die Abbruchhäuser mit dem gleichen neutralen Blick ab wie die Neubauten, die sich kurz darauf an ihrer Stelle breitmachen. In dieser Haltung unterscheidet er sich entschieden von seinem Zeitgenossen Carl Theodor Reiffenstein, der mit meisterhaften Aquarellen eine verlorene, vermeintlich bessere Zeit heraufbeschwor, die er in warmem Licht der Tagesrandzeiten inszenierte.
Solche romantischen Stimmungen einzufangen, war Mylius schon allein aus technischen Gründen verwehrt. Er musste zu Zeiten hellen Lichts fotografieren; zugleich hatte er darauf zu achten, dass wenig Publikumsverkehr herrschte, denn die langen Belichtungszeiten führten dazu, dass Personen (und etwa auch Pferdefuhrwerke) als Schlieren auf die Glasplatten gebannt wurden, wenn sie nicht für mehrere Sekunden stillhielten.
Aus diesen Gegebenheiten entsteht eine geradezu moderne Bildwirkung, die in manchem an die Architekturfotografien von Bernd und Hilla Becher erinnert. Unter einem ausgebrannt-leeren Himmel stehen leicht überbelichtete Häuser an unbelebten Straßen. Die gewissermaßen organische Seite der Stadt, das bunten Treiben ihrer Bewohner, ist im wahrsten Sinne des Wortes ausgeblendet. Das Versprechen der Authentizität, mit dem die Fotografie in ihrer Anfangszeit angetreten ist, um die Malerei abzulösen, kann sie in einem wichtigen Punkt nicht einlösen, was ihr aber aus heutiger Sicht gerade einen eigenen künstlerischen Rang verleiht.
Mylius war in Frankfurt nie vergessen. In der Debatte um die Rekonstruktion der historischen Altstadt zwischen Dom und Römer ist auch sein Werk vor knapp zwanzig Jahren wieder stärker ins Bewusstsein der interessierten Bürgerschaft getreten. Die von Kuratorin Kristina Lemke meisterlich komponierte Ausstellung im Städel weist ihm endgültig den Rang zu, der ihm in der Fotografiegeschichte der Stadt gebührt. Äußerer Anlass dafür ist die großzügige Schenkung durch einen anonymen Sammler, der dem Städel rund 180 Fotografien überlassen hat, die den Bestand von etwa 80 Arbeiten trefflich ergänzen.
Warum die Ausstellung den etwas reißerischen Titel „Frankfurt forever“ trägt, versehen sogar mit einem Ausrufezeichen, erschließt sich aus dem Gegenstand selbst, der ein untergegangenes Frankfurt zeigt, nicht recht. Man darf wohl unterstellen, dass ein Appell damit verbunden ist, der über das Werk Mylius’ hinausweist. Einen Hinweis gab Städel-Direktor Philipp Demandt, als er darauf hinwies, dass sich sein Haus, das sich als Global Player versteht, neuerdings stärker der Stadt, in der es seinen Sitz hat, widmet. Mit der Ausstellung über Mylius wolle man die Frankfurter Seele streicheln. Was auch als zarter Wink in Richtung Lokalpolitik, deren Unterstützung für das Städel dessen Bedeutung für die Stadt nicht widerspiegelt, zu verstehen sein könnte, es umgekehrt genauso zu halten.